Sich für die Stürme des Lebens wappnen

   
Wenn Yogaschüler:innen nach der Pandemie wegbleiben und das berufliche Fundament wackelt – vielleicht eine Neuorientierung gefragt ist: Dann hilft eine Fähigkeit, die unter dem Begriff Resilienz Furore macht: Innere Stärke, Innere Widerstandskraft.
 

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Text Marcel Friedli
 

Manchmal läuft alles rund. Man flockt und rockt sich locker und leicht durchs Leben, durch den Alltag: praktiziert und unterrichtet Yoga, was Freude bereitet und Erfüllung schenkt. Ist glücklich liiert. Weiss Familie und Freunde um sich, auf die man sich verlassen kann. Hat genügend Freizeit, um sich seinen Hobbys zu widmen.
Doch dass es manchmal regnet und man unverhofft bis auf die Unterhosen durchnässt wird und alleine im Regen steht: Diese Erfahrung machen wohl alle im Lauf ihres Lebens – mehr oder weniger oft, mehr oder weniger intensiv. Hie und da erlebt man einen Sturm und kann sich nicht vorstellen, dass es irgendwann wieder einmal einen fröhlichen, ausgelassenen Sommertag geben wird, der das Herz tanzen lässt. 

Manchmal gibt es heftige Auslöser, die eine tiefere und längere Krise auslösen, in der man alles in Frage stellt und sich veranlasst sieht, vieles – oder alles – neu zu sortieren: Wenn die Pandemie das berufliche Fundament zum Schmelzen bringt. Man in der Liebe zurückgewiesen wird. Oder wenn ein Mensch, der einem nahe ist, stirbt. 
Ein paar Dinge auf einmal, in geballter Ladung, können einem zusetzen. In dieser Häufung führen sie dazu, dass man nicht mehr ein und aus weiss. Dass man die Orientierung verloren hat. Blockiert ist.

Immunsystem der Seele

Trotzdem ist sie hier, ist sie da – auch wenn man sie in diesem Moment nicht spürt: die Kraft, die einem irgendwann hilft, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. Den ersten Schritt zu machen, um wieder auf die Beine zu kommen. Diese Kraft ist unter dem Namen Resilienz bekannt (vgl. Zweittext weiter unten). Sie ist eine Art Immunsystem der Seele – die Kraft, welche die allermeisten zum Licht zieht, früher oder später. 
«Die Menschen», sagt Psychologe Roman Kubli «sind recht resilient.» Diese Fähigkeit sei nicht bei allen gleich ausgeprägt und auch abhängig von der Erziehung und der genetischen Grundausstattung. 

Klarheit gewinnen

Resilienz sei nichts Statisches, sagt Roman Kubli. «Sie ist auch keine Eigenschaft. Resilienz ist vielmehr ein Prozess. Eine Fähigkeit, die man üben und trainieren kann. Diese Fähigkeit entwickelt sich über längere Zeit, während der man sich mit dem Thema auseinandersetzt und herausfindet, wie man sich selber verändern oder den Gegebenheiten anpassen soll – um wieder mit mehr Klarheit und Leichtigkeit vorwärtszuschreiten.»
Dabei kann es helfen, sich daran zu erinnern, dass man schon etliche Schwierigkeiten gemeistert hat. «Das stärkt die Zuversicht, den Weg aus der Misere zu finden», sagt der Psychologe. «Manchmal hilft es zudem, sich daran zu erinnern, welche Tools einem damals geholfen haben.» 
Bei jeder Krise ist es laut Roman Kubli essenziell, den eigenen Bedürfnissen auf die Schliche zu kommen. «Was genau brauche ich? Diese Frage weist den Weg zum Handeln. Wie beim Essen und Trinken: Ist man durstig und hungrig, sucht man Wege, um sich Wasser und Brot zu beschaffen.» 

Wertvolle Signale 

Dabei sind Gefühle wichtige Signale, wie Roman Kubli ergänzt, der in einem Ambulatorium in St. Gallen therapeutisch mit Kindern arbeitet. «Es ist wertvoll, sie im Körper wahrzunehmen, anzunehmen und auszuhalten. Gefühle sind kein lästiges Nebenprodukt, sie haben einen Sinn. Nimmt man sie ernst, helfen sie, wieder in die Spur zu kommen.»
In seiner zusätzlichen Tätigkeit als psychologischer Berater erlebt Roman Kubli oft, dass Klient:innen bereits beim Ausbrechen der Krise am Ende des Wegs sein wollen. «Doch es braucht die Geduld, einen Schritt nach dem anderen zu machen», betont er. 
«Der erste Schritt ist zum Beispiel, die eigene Angst wahrzunehmen, sie anzunehmen und sich mit ihr auseinanderzusetzen», sagt Roman Kubli. «Das führt dazu, dass man erkennt, welche Anpassungen nötig und stimmig sind. Schliesslich erkennt man, dass man sich auf positive Art verändert und etwas gelernt hat – reifer geworden ist.» Dies erkennt man meist höchstens im Nachhinein.

Wieder ins Machen kommen

Manchmal passieren so schlimme Dinge, dass einem der Boden unter den Füssen weggezogen wird. Zum Beispiel, wenn bei einem Verkehrsunfall ein zwanzigjähriger Mann stirbt. 
Bei diesem so unerwarteten Tod helfen Rituale. An der Beisetzung auf dem Friedhof und danach in der Kirche nehmen vierhundert Menschen Abschied: Sie zünden Kerzen an. Sie legen Rosen hin und überdecken den Sarg mit Erde. In Erinnerungen lassen sie den jungen Mann aufleben. 
«Solche gemeinsamen Rituale», sagt Theologe Peter Sladkovic-Büchel, «schenken Raum, in den Schmerz hineinzugehen, sich selber damit zu konfrontieren und ihn auszuhalten. Sie lassen Menschen spüren, dass sie auch im grössten Schmerz etwas machen können – sie erfahren, dass sie trotz allem nicht machtlos sind.»
Damit bewegen sich Betroffene aus der Opferrolle hinaus; ein weiterer Aspekt von Resilienz. Zudem gehen sie in den Schmerz hinein: nehmen Gefühle wahr, setzen sich mit ihnen auseinander. Versuchen, sie anzunehmen, auch wenn das unangenehm ist. Der Umgang mit den Gefühlen ist im Trauerprozess, bei dem Resilienz zum Tragen kommt, zentral. 
Ein tödlicher Unfall löst grössere Fragen aus: Warum passiert so etwas? Welchen Sinn soll das haben? «Auch nach der Beisetzung und der Abschiedszeremonie», weiss Peter Sladkovic-Büchel, «hat ein solches Geschehnis keinen Sinn. Doch es ist hilfreich, der Sinnlosigkeit eine Stimme zu geben, sie gemeinsam auszusprechen.» 
Dies ist der erste Schritt, der gleichzeitig eine Grundhaltung von Resilienz beinhaltet: Akzeptanz. Es geschehen Dinge, die das eigene Verstehen übersteigen. Dinge anzunehmen, die man nicht ändern kann und auf die man keinen Einfluss hat, ist eine grosse Herausforderung und bedarf der Geduld.

Würdigen und ermuntern

Nicht nur Extremsituationen wie der Tod eines jungen Menschen erfordern Resilienz. «Auch Trennungen», weiss Peter Neuhaus von der Fachstelle Ehe-Partnerschaft-Familie der katholischen Kirche Region Bern, «gehören zu den schwierigsten Lebenssituationen. Oder wenn die Partnerin oder der Partner eine Affäre hat. Und wenn Konflikte die Beziehung oder Ehe trüben: Das stürzt die Menschen oft in Krisen, in denen an ihre Resilienz appelliert wird.»
Als Therapeut versucht Peter Neuhaus, die individuelle Welt seiner Klient:innen zu erfassen. «Ich versuche zu ergründen, wie sie darauf reagieren: ob ihnen das Geschehnis komplett den Boden unter den Füssen wegzieht. Oder ob sie in vierzehn Tagen das Ereignis bereits einordnen können und den nächsten Schritt ins Auge fassen.»
Bei einer Trennung oder bei Konflikten helfe es, gut zuzuhören und auf den Menschen einzugehen, sagt Peter Neuhaus. «Und zu würdigen, dass die Situation schwierig ist.» Der nächste Schritt besteht darin herauszufinden, was der Mensch nun braucht. Und was er selber machen kann, im Sinne von: erfahren, dass er selber wirken kann. Dass er wirksam sein und machen kann. 
«Das, was an Fähigkeiten da ist, gilt es zu stärken – und aufzubauen, was noch nicht da ist», sagt Peter Neuhaus. «Oft ist es zielführend zu fragen, was in früheren Situationen geholfen hat. Sich daran zu erinnern, dass man früher schon Krisen bewältigt hat, kann die Situation in neuem Licht erscheinen lassen.»

Schlummernde Kräfte wecken

Andere Menschen sind eher auf der Bedeutungsebene erreichbar, wie Peter Neuhaus ergänzt. «Könnte die Krise, in der ich mich befinde, für etwas gut sein? Meist sieht es in einem Jahr anders aus.» 
Die allermeisten Menschen kann man irgendwo abholen, wie Peter Neuhaus aus Erfahrung weiss. «Indem man sich allenfalls an eine Fachperson wendet und sich Hilfe holt, zeigt sich, dass irgendwo eine Kraft schlummert – und dass man die Hoffnung hegt, den Weg aus der Krise zu finden.»

 

 

Angebote des Lebens

«Krisen sind Angebote des Lebens, sich zu wandeln. Man braucht noch gar nicht zu wissen, was neu werden soll; man braucht lediglich bereit und zuversichtlich zu sein.» 
Diese Worte der Schriftstellerin Luise Rinser bringen das Phänomen Resilienz auf den Punkt. Wörtlich bedeutet es Elastizität. Sie ist die Fähigkeit, Widrigkeiten zu trotzen und sich neuen Gegebenheiten anzupassen. Wie ein Gummiband ist Resilienz eine Kraft, die Menschen immer wieder aufrichtet, wenn ihnen Unangenehmes widerfährt. 

Zu Resilienz gibt es unterschiedliche Konzepte, die sich auf Yoga und Meditation übertragen lassen. Jenes von Resilienz-Spezialistin Monika Gruhl geht von den drei Grundhaltungen Optimismus, Akzeptanz und Lösungsorientierung aus:

Optimismus

Bis zu einem gewissen Grad kann ich dies einüben, indem ich besonders den erfreulichen Aspekten Aufmerksamkeit schenke. Eine optimistische Haltung zu kultivieren bedeutet nicht, Augenwischerei zu betreiben: Auch Unerfreuliches, Unverständliches, Schmerzhaftes ist Teil des Lebens. 
Dies zeigt sich auch auf der Matte. Längst nicht jede Yogastunde katapultiert mich in den siebten Himmel. Schmerzen, alte Geschichten können sich melden. Trotzdem bleibe ich dran und gehe optimistisch in ein Asana, das mich letztes Mal aus dem Konzept geworfen hat, mit der Haltung: Vielleicht verbirgt sich ein Schatz darin. Und: Ich traue mir zu, dass ich bei diesem Asana heute einen Schritt weiterkomme (falls nicht, versuche ich es wieder und weiter).

Akzeptanz

Mit der Erkenntnis, dass Dinge geschehen und ich sie nicht ändern kann, beginnt ein meist längerer Prozess. Rückschläge, Verluste, Misserfolge in das eigene Leben zu integrieren, bedarf der Geduld. Dann wird klar, dass es mehr als eine Floskel ist, dass jedes Ereignis auch einen positiven Aspekt enthält: Nichts ist so schlecht, dass es nicht auch sein Gutes hat. Dies sehe ich meist erst mit einigem Abstand. 
Zur Akzeptanz gehört auch, mich selber anzunehmen: mit allen Stärken und Schwächen, ebenso meinen Körper. Einen versöhnlichen, liebevollen Umgang mit mir selber pflegen: Dabei hilft mir Yoga, indem ich den Körper kräftig und geschmeidig mache und mich meiner inneren Welt widme. Negative, schwierige, beängstigende Gefühle und Schwächen können beim Praktizieren von Yoga auftauchen. Sie gehören zum facettenreichen Spektrum von Körper, Geist und Seele – ich nehme sie entgegen, nehme sie an, so gut mir dies möglich ist.

Lösungsorientierung

In jeder Schwierigkeit verbirgt sich die Lösung – im Sinne von Veränderung: Das ist das Motiv meiner Fertigkeit, vermeintliche Probleme in Möglichkeiten, Angebote und Chancen zu verwandeln. Das kann ich üben; allenfalls mit einer Fachperson oder einer vertrauten Person, die gut zuhört.
Beim Yoga können eine Decke, ein Block oder ein Gurt manchmal Wunder bewirken. Ich bediene mich der Hilfsmittel, die mich bei einem Asana und auf dem Weg in dessen Vertiefen unterstützen.

Folgende vier Fähigkeiten ergänzen die drei Grundhaltungen:

Sich selbst regulieren

Dies bedeutet, meine Gefühle und Impulse zu steuern, ohne sie zu unterdrücken. Indem ich erkenne, was und wie ich denke, beeinflusse ich den Zustand meines Gemüts. Dies hilft, bei Stress angemessen zu reagieren.
Auch beim Üben von Yoga achte ich auf mentale Bewegungen, die kommen und gehen und werde mir bewusst, welche Gedanken was auslösen: welche Gefühle und welche Empfindungen im Körper. Und welchen Einfluss dies hat, zum Beispiel auf den Atem. Merke ich, dass ich kaum noch atme, kann ich Gegensteuer geben, indem ich tief durchatme – was sich wiederum auf mein Fühlen und Denken auswirkt.

Beziehungen gestalten

Pflege ich Beziehungen, geschieht gegenseitiges Schenken und Erhalten. Dazu gehört Empathie: mich in andere hineinzuversetzen, ohne zu (ver-)urteilen; unabhängig davon, ob sie mir (un-)sympathisch sind. 
Und: Ich muss nicht alles selber schaffen – ich darf mir helfen lassen. Ebenso stehe ich anderen bei, wenn mir dies möglich ist.
Die Beziehung zur Lehrperson spielt beim Yoga eine zentrale Rolle. Je offener ich bin und je mehr Vertrauen ich schenke, desto mehr kommt zurück. Respektvolle Rückmeldungen und Verlässlichkeit vertiefen die Beziehung. Eine Quelle warmherziger, inspirierender Beziehungen sind vielleicht auch meine Gschpänli der Yogagruppe, die mit mir auf dem Weg sind. Ich bin bereit, mich auf sie einzulassen.

Verantwortung übernehmen

Erlebe ich Unangenehmes, fühle ich mich tendenziell als Opfer. Diese Rolle verlasse ich, indem ich Verantwortung für mich selber übernehme: für mein Denken, Fühlen, Handeln. Dabei ist es wertvoll zu unterscheiden, worauf ich Einfluss nehmen kann und wofür andere Verantwortung tragen.
Im Yoga-Unterricht entscheide ich selber, wie weit ich gehe. Falls ich mich verletze, ist nicht der Yogalehrer schuld daran. Ich übernehme die Verantwortung dafür – weil ausschliesslich ich selber wissen kann, welches Mass mir guttut.

Zukunft gestalten

Was ist mir wirklich wichtig? Wofür lohnt es sich, meine Tatkraft einzusetzen? Eine Art Leitstern. Sehe ich ihn, nehme ich Umwege, Hindernisse und Rückschläge in Kauf – ich bin zuversichtlich unterwegs.
Bin ich zur Erkenntnis gekommen, dass Yoga und Meditation eine Leitplanke in meinem Leben darstellen: Dann sind Ausdauer und Beharrlichkeit wichtig. Dies hilft, nicht sofort den Entschluss zu ändern; mich also nicht ständig von Zu- und Abneigungen leiten zu lassen und über einen längeren Zeitraum dranzubleiben. Mit Beständigkeit gestalte ich meine Zukunft und stehe dunkle Zeiten und quälendes Zweifeln durch – und erinnere mich an: Optimismus.

Quelle: Monika Gruhl. Resilienz. Die Strategie der Stehauf-Menschen. Krisen meistern mit innerer Widerstandskraft. Herder-Verlag

Beispiel für Resilienz

Das versteckte Kind

Sie waren hier in der Schweiz, aber sie durften nicht hier sein. Sie mussten sich verstecken: Kinder von Arbeitsmigrant:innen. Eines von ihnen war Egidio Stigliano. Trotz schwieriger Umstände hat der heute gut 60-Jährige seinen Weg gefunden – in Schwierigem waren auch Geschenke versteckt.


Für Egidio Stigliano riecht es hier wie früher. Und nach früher riecht es hier. Hier, das ist im Wald bei Altstätten SG. Früher, das ist in den 1960er-Jahren. Hier hat Egidio der Musik des Baches gelauscht, ist den Hang hochgeklettert, hat sich in der Höhle versteckt.

Dort hat Egidio Versteckis gespielt. Mit sich allein. Vielleicht verarbeitete er so spielerisch und spielend den Ernst seines Lebens, denn: Er musste sich tatsächlich verstecken. «Zur Strasse zu gehen», erzählt der heute über 60-Jährige, «hatten mir meine Eltern verboten. Ich sollte nicht entdeckt werden.» Denn Egidio war, als Sohn italienischer Arbeitsmigrant:innen, illegal in der Schweiz. Als Folge des Saisonnierstatuts: Es sicherte der Schweiz wirtschaftliche Flexibilität und federte den vermeintlich übermässigen Zustrom von Migrant:innen ab. Fast sieben Jahrzehnte war es gültig, von 1934 bis 2002. Dieses Gesetz bedeutete, dass Arbeitsmigrant:innen ihre Kinder nicht mitnehmen durften. Ab 1976 durften Kinder nachreisen, wenn ein Elternteil fünf Saisons in einem Betrieb angestellt war. Gemäss Schätzungen lebten in den 1970er-Jahren rund 15 000 Kinder illegal in der Schweiz. 

Geschenke

Eines dieser versteckten Kinder war Egidio. Mit sieben Jahren, als seine Nonna starb, kam er in die Schweiz. Sein Vater arbeitete als Maurer, während seine Mutter in der Textilfabrik in Altstätten bügelte. «Ich habe mich gefragt», sagt Egidio Stigliano, «wieso sie in der Schweiz keine Kinder wollen. Das habe ich nicht verstanden. Unsere Eltern haben gelitten, wir Kinder haben gelitten.»

So durfte nichts passieren, was Aufsehen erregt hätte. Und das geschah prompt: Hier, im Wald am Bach, hat sich Egidio den Arm gebrochen. Als Kind mit illegalem Aufenthaltsstatus hatte er kein Anrecht darauf, medizinisch versorgt zu werden. Doch Egidio hatte Glück, wie er sich erinnert: «Ein Arzt aus dem Dorf, ein liebenswerter Mann, hat mir illegal einen Gips gemacht.»

Als der Arm wieder verheilt war, beobachtete Egidio andere Kinder vom Balkon aus: wie sie zum Schwimmen gingen oder Fussball spielten. «Ich durfte sie nicht ansprechen», erzählt er. «Ich musste allein bleiben.» 

Immerhin habe er so bereits als Kind gelernt, schwierige Situationen zu meistern. «Das hat mich geprägt: Ich kann mich gut anpassen – das ist ein Geschenk der Migration.» Im Nachhinein ebenso ein Geschenk war, als er am Bach im Wald doch entdeckt wurde. Eine Gruppe mit Kindern kam vorbei. «Die Lehrerin hat mich auf Italienisch angesprochen und gemeldet. Sie meinte es gut.» 

Am Abend jedoch klingelten Polizisten. «Sie wollten mich ausweisen», erinnert sich Egidio Stigliano. Sein Vater habe sich gewehrt. «Er sagte: Das sind eure Gesetze – aber das ist mein Sohn.» Fürs erste wirkte das. Doch nur bis zum nächsten Abend. Dann kreuzten die Polizisten wieder auf. «Die Arbeit meines Vaters war gefragt, weil er mit Stein und Beton umgehen konnte, als hier noch überwiegend mit Holz gebaut wurde. Darum sagte der Chef meines Vaters den Polizisten, dass sein Geschäft ohne Papa nicht weiterbestehen könne.» Das sass. Die Familie durfte bleiben, Egidio erhielt einen Platz in der Schule. 

Ferienmamma

Gymnasium und Studium absolvierte Egidio Stigliano in Italien, wo er Medizin studierte. Allen Widrigkeiten zum Trotz hat er seinen Weg gefunden und gemacht: Heute ist er verheiratet, lebt in Vaduz und arbeitet als Neuropädagoge. 

Mit dreiunddreissig Jahren zog er wieder in die Schweiz, wo er bei einem Konsulat und als Lehrer tätig war. «Meine Mutter hat jeden Abend auf mich gewartet und für mich gekocht. Damit wollte sie etwas nachholen.»

Nachholen wollte sie vor allem jene vier Jahre, als Egidio bei der Nonna in Süditalien wohnte, während seine Eltern in der Schweiz Geld verdienten. Diese setzten seiner Mamma zu: «Sie hatte Depressionen. Einmal, als sie uns in Italien besuchte, war sie noch Haut und Knochen. Ich dachte, sie werde sterben. Der Arzt meinte, es sei am wichtigsten, dass sie mit ihren Kindern zusammen ist.»

Doch das war oft nicht möglich. «Die Zeit, die man nicht zusammen verbracht hat, kommt nicht zurück», sagt Egidio Stigliano. «Das lässt sich nicht wiedergutmachen.» Auf eine Art Wiedergutmachung hofft Egidio Stigliano trotzdem. Dafür setzt er sich als Vizepräsident des Vereins Tesoro ein. Mit dem Ziel, dass sich die Schweiz entschuldigt und die Opfer symbolisch entschädigt. «Etwas, das Geschichte ist, soll Geschichte werden.» 

 

 

 

 






Vorstands des Vereins Tesoro mit Egidio Stigliano
(hinten rechts)