"Krankheit entsteht, wenn wir nicht verbunden sind"

   
Spiritualität kann bei Krankheit eine grosse Stütze sein. Wirklich? Und was ist mit Spiritualität gemeint? Als Ärztin und Yoga-Therapeutin kennt Wiebke Mohme die Verbindung von Gesundheit und Spiritualität – und den Nutzen, der daraus entstehen kann.

Interview: Marcel Friedli-Schwarz

 

Spiritualität verstehen Menschen unterschiedlich. Wie beschreibst du Spiritualität?
Dass Menschen an etwas glauben, das tiefer und grösser ist als sie. Etwas, das sie sich nicht vorstellen können, da unser Geist begrenzt ist: Wir können nur das imaginieren, was uns bekannt ist. Spiritualität geht über unser Vorstellungsvermögen hinaus und hat Einfluss auf unser Leben. Sie ist der Glaube an etwas, das einen trägt. Das kann auch ein Vorhaben oder eine Aufgabe sein, die einem besonders am Herzen liegt.

Ist Spiritualität deiner Ansicht nach dasselbe wie Religion?
Nein. Viele Menschen haben ein spirituelles Zuhause in einer Tradition oder Religion. Eine Religion gibt in der Regel Glaubensinhalte vor. Spiritualität kann mit einer Religion verbunden sein. Bei Spiritualität kann es sich indes auch um eine persönliche Auffassung handeln. Ob nun Religion oder Spiritualität – beides hat eine heilsame Wirkung: Es schenkt Verbundenheit und Sicherheit.

Auch wenn man krank wird?
Eine spirituelle Haltung kann helfen, einer Krankheit einen Platz oder Sinn in der Lebensgeschichte zu geben – auch wenn man ihn nicht verstehen kann. Man ist trotzdem im Grossen und Ganzen eingebettet. Dies kann emotional entlasten.

Kann Spiritualität davor schützen, krank zu werden?
Krankheit kann entstehen, wenn wir nicht verbunden sind: weder mit uns selbst, noch mit anderen, noch mit dem universellen Grossen und Ganzen. Das hat auch eine körperliche, eine neurologische Komponente: Unser Nervensystem ist auf Verbindung aus. Darum ist es so wichtig, mit anderen Menschen zusammen zu sein oder sich in der Natur aufzuhalten. Wir leben in Beziehungen. Dies bedeutet Verbundenheit mit anderen. Gelebte Spiritualität stellt Verbindung her.

Auch bei Menschen, die sich als spirituell bezeichnen, ist diese Verbindung oft nicht da.
Ja. Somit ist es die Aufgabe, sich dieser Spaltung und Trennung bewusst zu werden und den Weg zur Verbindung wieder zu suchen. Unsere Welt ist dadurch gekennzeichnet, dass wir in Polaritäten leben, in Gegensätzen. Es geschehen Dinge im Inneren; andere kommen von aussen auf uns zu. Die Herausforderung ist, mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen und immer wieder in Verbindung zu gehen.

Schwierig, wenn man krank wird.
Ja, dann ist es hilfreich zu akzeptieren, was ist. Die Krankheit annehmen, ohne sich damit zu identifizieren. Sie als Herausforderung sehen, die zu bewältigen ist. Trotzdem im Moment sein, in der Lebendigkeit des Augenblicks. Mit dem, was gerade ist. Und trotz allem schön ist: Musik, ein Lächeln, eine Blume, ein Sonnenstrahl, der Duft von Kaffee.

Es gibt den Ansatz, dass jede Krankheit eine Symbolik hat.
Es ist sinnvoll, darüber nachzudenken. Wird man krank, kann die Botschaft des Körpers sein: Du brauchst eine Pause. Und auch aus den einzelnen Organen kann man eine Message herauslesen – zum Beispiel kann eine Herzkrankheit zur Frage führen: Wie steht es um Mitgefühl und Liebe, um Beziehungen zu Menschen? Gibt es schwerwiegende Verletzungen, die ich in mir trage?

Ist das zu simpel?
Ja. Es wird schwierig, wenn die Symbolik zu schematisch ist. Sie kann eine erste Andockstelle sein, wenn man sich mit der Krankheit auseinandersetzt. Es gibt auch genetische Effekte, die einen Einfluss haben: Manchmal reagiert eine genetische Schwachstelle. Ein Organ, zum Beispiel das Herz. Ein Hinweis kann die Verbreitung einer Erkrankung in der Familie sein. 

Also hat Krankheit nicht per se einen Sinn?
Krankheit ist ein Zustand des Getrenntseins. Dies kann der Auslöser sein, sich auf die Suche zu machen: Wie werde ich wieder ganz, verbunden, heil? Das ist sinnvoll.

Hast du ein Beispiel?
Ich habe etliche Menschen erlebt, die zum Beispiel an Krebs erkrankten und dies zum Anlass nahmen, ihr Leben unter die Lupe zu nehmen: etwa belastende Gefühle, meist seit ihrer Kindheit. Bedeutende Ereignisse und Beziehungen. Letztlich geht es darum, das, was wir abgespalten haben, zu sehen – und zu integrieren und zu transformieren. 

Was soll das bringen?
Damit übernehmen wir Verantwortung für unser Wohlergehen: Was kann ich tun, um heil und gesund zu sein oder zu werden? 

Aber wenn man bereits todkrank ist?
Auch dann kann es sinnvoll sein, Verantwortung für unser Wohlergehen zu übernehmen. Manchmal ist es eine Zeit, die man zum Abschliessen nutzen kann. Mir fällt eine schwerkranke Patientin ein, die sich auf den Jakobsweg machte: Sie musste etwas zu Ende bringen. Und starb Jahre später, als die Ärzt:innen prophezeit hatten.

Wie erkennt man, was einem eine Krankheit sagen soll?
Die Idee, welche Symbolik eine Krankheit hat, kann ein erster Anhaltspunkt sein. Man soll sie jedoch meines Erachtens nicht zu wörtlich nehmen. Es ist sehr individuell und persönlich, welche Schlüsse man selber daraus zieht. Vor allem sollte es einen nicht mit Schuld belasten: Man ist nicht schuld an einer Krankheit und kann niemand Schuld geben.

Wenn man Krankheiten zu sehr psychologisiert und in symbolische Schemata zwängt: Ist das dann eine Überforderung?
Ja, das kann überfordern. Da kann es helfen, sich bewusst zu machen: Ich habe eine Krankheit. Nicht: Ich bin diese Krankheit. Sich also mit der Krankheit nicht identifizieren. Und ein zentraler Schlüssel: Akzeptanz – versuchen anzunehmen, dass es ist, wie es ist. Und sich Hilfe holen. Damit stellt man wieder Verbindung her: zu anderen Menschen.
 

Dr. Wiebke Mohme

Wiebke Mohme ist Ärztin, Yogatherapeutin, Yogalehrerin und Dozentin für Yogatherapie an der Yoga University in Villeret im Berner Jura.
www.yogacure.de 

Krankheit und Symbolik

«Was ich nicht deute, bleibt in aller Regel bedeutungslos», sagt Rüdiger Dahlke. Er ist seit fast fünf Jahrzehnten Arzt sowie Autor des umfangreichen, bekannten und vielfach neu aufgelegten Werks Krankheit als Symbol. «Erst über die Bedeutung erhält das Ganze Sinn für Betroffene. Ohne Sinn bleibt alles sinnlos.» 
Gemäss Rüdiger Dahlke spielt Spiritualität im Umgang mit einer Erkrankung die entscheidende Rolle: «Den meisten Menschen in unserer modernen Wohlstands-Gesellschaft ist dieser Zusammenhang gar nicht mehr bewusst. Mein psychosomatischer Ansatz reicht immer bis in die spirituelle Dimension. Wobei Krankheit Menschen dort abholt, wo sie gerade sind – und das ist meist der Körper.»
Dieser spreche symbolisch. Krebs zum Beispiel sei die Aufforderung, geistig und seelisch zu wachsen. «Nimmt man diese Aufforderung nicht an, kann sie in den Körper sinken.» 
Der Symbolik-Ansatz birgt die Gefahr, dass Krankheiten psychologisiert und spiritualisiert werden, wie der bekannte Arzt einräumt. «Die Gefahr, Patientinnen und Patienten zu überfordern, ist immer gegeben. Deshalb ist es so wichtig, sie dort abzuholen, wo sie sind. Oft ist es ein weiter Weg.»