Über den Atem - Normalisierung durch Reduzierung

Weniger ist Mehr

Die Atmung in ihrer konstant justierenden und balancierenden Eigenschaft ist der wohl wichtigste Regulator, um unser systemisches Gleichgewicht (Homöosthase) aufrecht zu erhalten, das − solange ich lebe − immer gewährleistet ist. Der lebendigeKörper befindet sich immer im Gleichgewicht und wenn er dieses nicht mehr aufrecht erhalten kann, stirbt er. Die Frage ist also nicht, ob ich im Gleichgewicht bin, sondern in was für einem.

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Text Ansgar Schoeberl

Chronische Überatmung − Grund vieler Leiden

Im physiologischen Normalfall (also wenn die Norm erfüllt ist) kann mein Körper ein optimales, d.h. leichtes, unbelastetes und unkompensiertes Gleichgewicht gewährleisten und diesen Zustand empfinden wir als gesund, vital und robust. Je weiter mein System sich von den Normen entfernt, also abnormaler, belasteter und unausgeglichener wird, desto schwerer fällt es ihm, eine Homöostase (Gleichgewicht) aufrechtzuerhalten und wird diese immer mehr durch Kompensationsmassnahmen gewährleisten, die wir mit der Zeit als bedrückend, beengend und belastend empfinden mögen. 

Im Gegensatz zu den anderen physiologischen Normen (Temperatur, Puls, Blutdruck, Blut-pH) die recht eng und unflexibel gesteckt sind (v.a. letztere), erscheint die Normung des Atems zunächst als sehr flexibel und tolerant, da er seine Luftmenge scheinbar mühelos mit jedem Atemzug dem momentanen Bedarf anpassen kann. Meistens allerdings, indem er sie vertieft, und das hat mit der Zeit seinen Preis, denn wenn solche akuten Anpassungen zur Gewohnheit werden, werden sie chronisch – chronische Überatmung (chronic hyperventilation), dem unterliegenden Grund so vieler Leiden.

Obwohl der Atem so flexibel scheint, ist auch er physiologisch genormt, und zwar auf die Menge Luft, die er pro Minute im Ruhezustand veratmet und diese liegt bei lediglich vier bis fünf Liter; das ist wenig und leicht! Luftmengen die (im Ruhezustand) darüber liegen, mögen zwar für den Körper im Moment kompensatorisch wichtig sein, sind aber per Definition eine Hyperventilation oder Überatmung. Diese führt aufgrund des zu starken CO2-Verlustes bei der Ausatmung zu einer mangelhaften zellulären Sauerstoffversorgung und zu einer respiratorischen Alkalose, die den Körper wiederum nötigt, diese mit einer metabolischen Azidose auszugleichen. Chronische Erkrankungen oder Leiden (chronic diseases), machen zwar weniger als 10 % aller bekannten Krankheiten aus, verursachen jedoch über 80 % aller natürlichen Todesfälle. 

Auf das richtige Blutgasverhältnis kommt es an

Es ist überwiegend diese Toleranz zum CO2 in den Lungenbläschen, die meine Atmung ausmacht, antreibt, reguliert und steuert. Die Lungen sind keineswegs Luftpumpen, die ein Gas einatmen und ein anderes ausatmen, und zwar je mehr desto besser; das ist eine bedenklich weitverbreitete und relikte Sichtweise aus dem Dampfzeitalter – wir sind keine mechanischen, sondern organische (biochemische/biophysische) Wesen.

Vielmehr ist der Atem ein Austauscher und Gewährleister von rechten Gasverhältnissen. In der Lunge tauscht der Atem mittels Respiration (Sekundäratmung) atmosphärische, körperfremde Luftgase (21 % O2 und 0.035 % CO2) gegen ambiente körpereigene (5 % O2 und 7 % CO2) aus. Und entlang der Blutbahn tauscht er mittels Zellatmung (Primäratmung) hämoglobingebundenes O2 gegen zellproduziertes CO2 ein und gewährleistet so (neben lebenswichtiger ATP/Energiegewinnung) das richtige Blutgasverhältnis und dessen so striktem pH – was in der Lunge respiriert, atmet in der Zelle – was und vor allem wie!
Sauerstoff ist zwar essenziell lebensnotwendig, aber auch reichlich in der Luft vorhanden; allerdings ist er von bestimmten Mengen zellulärem CO2 abhängig, welches als Bote und Austauschstoff fungiert, um absorbiert werden zu können. Kohlendioxid ist zwar in der Luft nur unwesentlich vorhanden, dafür produziert es der Körper massenhaft mittels Muskelbetätigung in jeder Zelle und sorgt so dafür, dass die jeweils richtige Menge Sauerstoff in die jeweils richtige Zelle gelangt und dort oxidieren kann. Je mehr CO2 eine Zelle produziert, desto mehr O2 wird an sie abgegeben und umgekehrt.

Bei einer zu vertieften (abnormalen) Atmung atmet sich das CO2 jedoch zu stark ab und fehlt dann den Zellen, um es gegen O2 eintauschen zu können, was zu einer zellulären Unterversorgung trotz sauerstoffgesättigtem Blut führt. Wissenschaftlich drückt sich das im wichtigen aber erstaunlich unbeachteten Bohr-Effekt aus, der bereits seit 1904 bekannt ist. Aufgrund von Überatmung entsteht ein zellulärer Sauerstoffmangel, der uns reflexiv zu einer noch tieferen Atmung antreibt, die uns noch weiter unterversorgt und so einen Teufelskreislauf in Bewegung setzt – mehr Respiration entspricht weniger Sauerstoffversorgung, und weniger Respiration entspricht mehr Sauerstoffversorgung!

Und hier kommt das Atemtraining der Buteyko- Methode ins Spiel. Siehe weiter unten

 

 

Kurz erklärt

Alkalose: kompensierter Säuren-Basen-Haushalt aufgrund eines zu hohen Basenwertes
Azidose: kompensierter Säuren-Basen-Haushalt aufgrund eines zu hohen Säurewertes
Respiration: auch Sekundäratmung genannt, ist der Gasaustausch zwischen der Atmosphäre und den Lungenbläschen; hier findet das „Luftholen“ statt.
ATP: Adenintriphosphat ist das Ergebnis der Zellatmung; es ist das lebenserhaltende Energiemolekül, das jede Zelle sowohl braucht als auch herstellt. Der Gasaustausch der Respiration dient als Mittel zum Zweck für den Gasaustausch der Zellatmung; eine gute oder normale Atmung führt bis zu 38 ATP-Molekülen pro Zyklus, eine ungute oder abnormale Atmung nur zu 2!

Beispiel Asthma

Asthma ist eigentlich eine sehr alte (bereits den Ägyptern bekannte) Lungen-Symptomatik und kein Schaden, wie z.B. Emphysem oder COPD. Aufgrund einer Neigung zu grossen CO2-Verlusten (Überatmung) hat der Körper evolutionär bei Einzelnen einen Schutzmechanismus entwickelt, der von Zeit zu Zeit die Bronchien verengen lässt, um die Atmung (d.h. den CO2-Abfall/Verlust bei der Ausatmung) vehement zu hemmen, damit der CO2-Spiegel sich wieder erholen und anreichern kann, was in der Regel eine Sache von Momenten und Minuten ist. Ein erholtes CO2-Niveau (welches u.a. als Vasodilator oder Gefässerweiterer fungiert) weitet und entspannt die Bronchien und die Atmung geht ungehindert weiter. Das ist gewiss eine sehr unangenehme Symptomatik, mit der man leben, aber eben keine Krankheit, an der man sterben muss!

Zu dieser Krankheit wurde Asthma erst mit dem ständigen Gebrauch von Inhalations-Sprays (v.a. jene mit Langzeitwirkung). Denn mit der Asthma-Symptomatik zwingt der Körper den Atem quasi dazu, kurzfristig enorm wenig Luft zu veratmen, um wieder ein normaleres Niveau zu erlangen, während das Inhalationsspray den Körper quasi dazu zwingt, wieder tief durchzuatmen – das komplette Gegenteil. Und diese dem Körper so konträre Funktionsweise des ständigen Sprayens wird seine Mechanismen mit der Zeit so komplett über den Haufen werfen, bis er nicht mehr adäquat reagieren, regulieren und kompensieren kann und es lebensgefährlich werden kann. Der gelegentliche Gebrauch von Sprays ohne Langzeitwirkung ist vom Körper vermutlich tolerierbar – die Menge macht das Gift.

Atemtraining der Buteyko-Methode

Eigentlich lässt sich diese Methode an fünf Fingern abzählen:


1. Entspanne und beobachte den (rhythmischen Bauch-) Atem.

2. Verringere diesen Atem und bleib entspannt.

3. Reduziere ihn weiter, bis ein Lufthunger verspürt wird.

4. Halte den Lufthunger.

5. Halte die Entspannung.

Um dies zu gewährleisten, arbeitet die Methode einerseits mit reduzierter Atmung (Lufthunger) und andererseits mit graduellen Atempausen nach der Ausatmung (Maximumpausen), die sitzend oder gehend ausgeführt werden. Sowie der Körper am leistungsfähigstem ist, wenn leicht angehungert, so geht es auch dem Atem – ständige Übersättigung ist für beide problematisch. Lufthunger zu entwickeln und diesen rhythmisch und entspannt im Bauch aushalten zu können, ist das A und O dieser Methode. Mund- und Brustatmung sind zu vermeidende „No-Gos“ – es wird immer durch die Nase und immer mit dem Bauch (Zwerchfell) geatmet.

Wo wir mit unserer Atmung stehen, wird mit der sogenannten Kontrollpause gemessen. Nach einer entspannten, sachten Ausatmung wird so lange gewartet, bis der erste deutliche Impuls zur Einatmung geschieht und diese dann ebenso sachte erfolgt, wie der vorhergehende Ausatem. Das klingt zwar einfach, bedarf aber einiger Übung – es ist eine Messung und keine Leistung!

Das Ziel ist, so lange konstant und massvoll zu trainieren, bis unser Atemzentrum wieder normalere CO2-Werte tolerieren kann; Ausdauer und Beharrlichkeit sind dafür unerlässlich. Die Kunst ist dann, diesen Atem mit der Zeit immer mehr mittels sich ebenfalls normalisierenden Lebensgewohnheiten (Ernährungs-, Schlaf-, Geist- und Aktivitäts-Verhalten) aufrechtzuerhalten.

Je mehr sich der Atem reduziert (sprich normalisiert) und sich der Organismus dabei stabilisiert, desto mehr wird er von unnötig gewordenen Kompensationen ablassen und sich ihrer symptomatisch entledigen. Solche Dekompensationen oder Reinigungen können wir temporär als recht unangenehm und symptomatisch empfinden, ähnlich wie bei der „Erstverschlimmerung“ in der Homöopathie.

Das Training wird dann entsprechend angepasst, so dass es den Organismus nicht über das Mass reizt und trotzdem stetig genug bleibt, um den Reinigungsprozess durchzuziehen.) Danach stabilisieren wir uns auf spürbar erhöhtem (normalerem) Niveau weiter, bis der Körper sich erneut weiter befreien und bereinigen kann. Diese Strategie wechselt sich ab, bis der Atem und damit unser Organismus sich nachhaltig normalisiert haben – dann werden Alltagssituationen ausreichen, um den Atem normal zu halten und das Training beschränkt sich auf gelegentliche Momente wann und wie sie notwendig sind.

Interview mit dem Autor und Yogi Ansgar Schoeberl

Ankündigung Weiterbildungsseminar mit Ansgar Schoeberl an der Yoga University

Körper, Raum & Atem in der Yoga-Praxis: die Kunst des Reduzierens
Datum: 25. bis 28. Januar 2024

weitere Informationen zum Seminar folgen im Seminarprogramm 2024 der Yoga University (erscheint im Herbst 2023)