Interview mit Ansgar Schoeberl

"Live simple, think high"

"Live simple, think high"

Lebe einfach, denke gross! Dies war der Wahlspruch Swami Vivekanandas, der mit seiner denkwürdigen Rede vor dem Parlament der Religionen 1893 in Chicago als der Pionier des heutigen Yoga im Westen gilt. Dieser Satz wurde auch für Ansgar Schoeberl zum Lebensmotto. Yoga Mail hatte die Gelegenheit, mit dem 51-jährigen Deutschen zu sprechen, der demnächst für wenige Workshops in der Schweiz weilt.

Interview Marcel Friedli-Schwarz

Yoga Mail: In einer Höhle zu leben, klingt wie das Erfüllen eines Traumes eines jeden Yogis, einer jeden Yogini – wie traumhaft ist das?

Ansgar Schoeberl: Ich bezweifle, dass dies der Traum aller Yogi:nis ist. Das sind Gedankenspielereien, in etwa so ernsthaft wie der Cowboy- und Indianer-Traum, den man an der Fasnacht auslebt.

Aber es ist yogisch, in einer Höhle zu wohnen?

Das ist eher Geschmackssache als yogisch. 

Inwiefern?

Eine Höhle ist eine schöne Lebensform, nachhaltig und natürlich. Im Winter hält sie warm, im Sommer kühl. Sie ist insofern ein Traum, als konventionelle Bauweise ein Alptraum ist: allein schon wegen der vielen künstlichen, teils giftigen Baumaterialien und oft ohne jede Art von Fengshui oder natürlicher Schönheit. Ich stelle mir das als ein schreckliches Wohngefühl vor.

Ist es Freiheit oder Grenzerfahrung, eine Höhle als Daheim zu haben?

Ich denke, es geht mehr um die Lebensweise als um die Wohnstätte; mehr um den Inhalt als um die Form. Einfache und natürliche Lebensumstände sind für die Yoga-Praxis hilfreich, aber vor allem auch Geschmackssache. Wenn jemand lieber in einem Hochhaus in Smog-City meditiert, ist das auch gut – und ein Grund mehr, den Atem zu reduzieren.

Aber den braucht man im hektischen städtischen Leben.

Das Notwendige – Lebenserwerb, bürokratische Bewältigungen – mit dem Freiwilligen wie Yoga zu kombinieren, ist eine generelle Lebenskunst. Meist kommt das, was uns wirklich am Herzen liegt, zu kurz, weil wir uns im Äusseren verlieren: Beruf mit Berufung verwechseln.

Was fasziniert dich daran, in einer Höhle zu hausen?

Ich mag alternative Lebensformen. Schon mit Anfang zwanzig habe ich in den Höhlen von Granada, im Tipi in den Alpujaras und auf Festivals quer durch Europa gelebt, noch bevor ich nach Indien und zum aktiven Yoga kam. Ich war dann sehr angetan, als ich in Indien den Yoga-Traditionen begegnete, in denen man auf sehr einfache und natürliche Weise sehr gut lebt. Dies gemäss dem Grundsatz von Swami Vivekananda: lebe einfach, denke gross. 
Mein Gurustan oder Ort der Lehre war ebenfalls ein Höhlen-Ashram. Dort durfte ich Pranayama tiefer und feiner erleben.

Wie sieht deine Höhle aus? 

Die jetzige Wohn-Höhle umfasst etwa zwölf Quadratmeter. Daneben liegt noch eine Bade-Höhle, dazu gibt es einige Abstell-Höhlen sowie einen Gästeplatz und viel Land, oder besser: eine halbe Schlucht.

Hat die Höhle dich oder hast du sie gefunden?

Der Ort und ich haben gemeinsam zueinander gefunden.

Wie gestaltest du deinen Tag? 

Die erste Tageshälfte verbringe ich gerne mit Selbst-Beschäftigung: mit persönlicher Praxis. Und die zweite mit Land-Beschäftigung, was das Leben in der Natur zuhauf mit sich bringt: Sich um Solarstrom, Wasserleitungen, Land, Höhlen und Infrastruktur zu kümmern, ist ein halber Fulltime-Job.

Nach aussen gibst du das Bild des perfekten Yogis ab, der einsam in einer Höhle lebt. 

Den perfekten Yogis gibt es nicht. Und ich hoffe, niemand trägt den Traum im Herzen, einsam zu sein!

Ich meine es eher im Sinne von: sich ganz und gar dem Yoga zu widmen.

Dies erfordert, alles ins Leben zu integrieren, so dass Äusserlichkeiten – wie das Wort Yoga – keinen grossen Platz haben. 

Du lebst alleine. Warum ist dies dein momentaner Weg?

Weil es mein momentaner Lebensumstand ist. Ob man den Weg alleine, in Partnerschaft, Sangha oder Kommune begeht, liegt mehr am Leben als an einem selbst. Etwa eine Hälfte meines Lebens habe ich in fester Beziehung und eine Hälfte allein verbracht und dieses halb-halb entspricht ziemlich meiner Neigung. Einer meiner Lehrer betonte oft die Entwicklung: from the fear of loneliness to the joy of aloneness; oder von der Angst, alleine zu sein – zur Freude des All-Eins-Seins.

Wie meinst du das?

Das Leben natürlich und sich selbst aushalten zu können, sind die zwei Seiten der Yoga-Kunst: einfach und natürlich. Auf der einen Seite Abhyasa: eine einfache, stabile persönliche Praxis mit Körper, Atem und Geist. Und auf der anderen Seite  Vairagya: eine dynamische, natürliche Verbundenheit mit dem, was ist und so dem künstlichen Sog entsagen, allem und jedem hinterherrennen zu müssen. Yoga ist einfach – aber nicht leicht.

Wie gehst du um mit Bewunderung, Erwartungen, Exoten-Rolle?

Wie sich die persönliche Sehnsucht ausdrückt, ist meines Erachtens Geschmackssache. Hat man seinen Geschmack gefunden und lebt ihn, ohne anderen in die Quere zu kommen, schenkt man gewissen Projektionen keine Beachtung mehr.

Könntest du wie ein Yogalehrer leben: mit Lohn, allenfalls Familie, Ferien?

Wer in festen Umständen arbeitet, benötigt auch festen Lohn und Ferien. Ob mit Familie oder ohne, ist ja unabhängig davon, wo und wie ich lebe: ob Haus oder Höhle, Stadt oder Land. Dort, wo mich das Leben hinführt, will ich auch lieben – mich und die anderen. Und dort wo ich liebe, will ich auch leben – allein und mit anderen! 

Deine persönliche Lebenskultur ist nicht das klassische bürgerliche Leben – warum?

Das klassische bürgerliche Leben, wie du es nennst, hat sich, etwas drastisch gesagt, zu einer tragischen Komödie entwickelt. Menschlich tragisch und kosmisch komisch.

Was findest du komisch, seltsam?

Sowohl übersättigt als auch mangelernährt in unschönen Wohnstätten zu hausen und immer künstlicheren Konsumanreizen ausgesetzt zu sein, wo das Natürliche über Hochglanz-Bioläden abonniert und das Einfache erst im Manager-Training wiedergergefunden werden muss. Das finde ich sowohl tragisch als auch komisch. Vor allem aber dieser heillose Effizienzwahn: immer mehr, weiter und heiter. Noch mehr ist immer noch nicht genug. Das Angebot wird nicht nachgefragt, sondern generiert. Es geht nur noch um den Konsum und viele Jobs beruhen inzwischen auf der Fähigkeit, Produkte zu verkaufen, die eigentlich niemand braucht oder sich leisten kann. Das ist zwar alles auch Geschmackssache, vor allem aber absurd.

Wie erlebst du es, wenn du auf diese Tendenzen triffst?

„Es gab ein Begräbnis, wo niemand hingegangen ist, weil niemand wusste, das es stattfand. Wer wurde begraben? Der gesunde Menschenverstand!“ Diese moderne Parabel finde ich sehr treffend; was gestern noch abnormal war, ist die Norm von heute – weder einfach noch natürlich. Das Leben an sich kommt überall zu kurz und das Gefühl, keine Zeit zu haben, ist überall präsent. Sich zu verstricken und drei Sachen gleichzeitig zu machen: diese Gefahr lauert immer, unabhängig von der Lebensform.

Deine Lebensform: Was sagen deine Eltern zu ihr?

Wie wohl die meisten Eltern machten sich auch meine anfangs Sorgen, als ich aus der allgemeinen Rolle fiel. Sie freuen sich mittlerweile, dass ich meine eigene Rolle gefunden habe.
Unabhängig von der Rolle, gibt es immer Erschütterungen. Vor drei Jahren ist deine Finca abgebrannt. 
Das war eine Grenzerfahrung. Fast die Hälfte des ländlichen Nordwestens von La Palma ist vor ein paar Jahren abgebrannt. Tagelang brannte es. Wochen dauerte es, bis sich die Glut legte. Überall Russ und Asche. Wir waren mitten im Herd des Feuers. 
Übrig blieb einzig eine Tasche mit Ausweis, Handy, Computer, Klangschale und ein paar Kleidern. Sonst ging alles in Flammen auf, – auch der gelebte Traum der Selbstversorger-Yoga-Finca. 

Leider noch mehr. 

Ja. Meine damalige Beziehung überlebte das Feuer auch nicht. Als ich eine neue Wohnstätte – die jetzige Höle – herrichtete, hatte ich noch einen üblen Sturz. Materieller, emotionaler und gesundheitlicher Totalschaden.

Wie geht es dir jetzt?

Stück für Stück, Schicht für Schicht, findet man wieder zu sich selbst und stellt sich den Herausforderungen und vor allem der Heilung – am Ende ganzer als zuvor!

Artikel: Über den Atem - Normalisierung durch Reduzierung


Bildlegenden
Ansgar mit Babaji im Ashram, Yoga-Finca auf La Palma nach den Bränden, jetzige Wohn-Höhle auf La Palma

Suchen & Finden

Manchmal brauchen Dinge Zeit, um zu reifen und sich zu finden. So war es bei Ansgar Schoeberl mit Yoga. Kurz nach seiner Ankunft in Indien Mitte der 90er Jahre traf er auf das Yoga – „fand“ es aber nicht. Aber er blieb. Ein paar Jahre später, auf der Kumbha Mela in Haridwar, machte es klick und er begann, intensiv zu praktizieren. Er unternahm ausgiebige Wanderungen mit Sadhus und Hirten im Himalaya und pilgerte quer durch Südasien. Oft zog er sich in Höhlen-Ashrams und Wald-Klöster zurück. Ab 2008 verbrachte er die Sommer in den Schweizer Alpen und fünf Jahre später zog es ihn auf die Kanareninsel La Palma.

In Deutschland 1972 geboren, widmete sich Ansgar früh dem zivilen Ungehorsam und sorgte in Punkbands für Aufsehen. «Doch ich merkte, dass ich nicht dauernd gegen etwas sein will, sondern für etwas», sagt er. «Ich suchte nach dem gewissen Etwas.»

Seit gut zwanzig Jahren unterrichtet Ansgar Yoga und ist dabei regelmässig in der Schweiz:

am 27. August in Solothurn
am 3. September in Matzingen
am 10. September in Wetzikon

Details auf seiner Website: 
http://yoga-vichara.net/workshops/ 

Stationen auf dem Weg

1996–2010: Intensives Studium des Yoga und seiner Praxis überwiegend in Indien; u.a. mit Brahmarcharya Rudra-Dev, Yogacharya Venkatesh & Clive Sheridan. Inspiriert von Dona Holeman & Vanda Scaravelli.

2006–2010: Intensivierung der Pranayama-Praxis und der Shift vom Körper zum Atembewusstsein mit Clive Sheridan (Vritti-Pranayama), Pavan-Baba (Mantra-Pranayama) und Sri Yogi Lal (Yoga-Darshan).

2010–2014: Rebirth-Breathwork mit Leonard Orr & Heike Strombach; Holotroper Atem mit Luca de Santis.

2010–2012: Grund- & Intensivkurs des Erfahrbahren Atem am Ilse Middendorf-Institut in Berlin.

2015–2020: Praxis & Ausbildung in der klassischen Buteyko-Methode zum Senior-Faciliator unter Vladimir Sukhonosov.