Wenn Extreme sich treffen
Es war das Extrem der Kälte, das Wim Hof in früher Jugend zu seinem warmen Freund machte und aus dem Eisbaden heraus entwickelte er seine Atempraxis. Die extreme Gegenwartspräsenz der Kälte führte zu einer extremen Ermächtigung des Atems und zusammen zu einer extremen Stärkung des Willens. Diese drei Elemente fügte er zu einer potenten Methode zusammen, wo die einzelnen Extreme im Kontext zueinander stehen, sich bedingen und beeinflussen. Eiskalte Bäder, volle Überatmung und ein furchtloser Wille fordern den Körper extrem heraus und nötigen ihn zu extremen Anpassungsmechanismen (adaptiven Stress oder Hormesis), die wir dann als extrem ermächtigend empfinden können.
Einzeln und für sich ist weder die Überatmung, noch der Kälteaussatz, noch der furchtlose Wille langfristig natürlich oder förderlich (sondern ganz im Gegenteil, wie wir sehen werden) aber in der Kombination mag der Körper genötigt werden, auf solch extremen Situationen mit extremen Anpassungen und Ermächtigungen zu reagieren, um nicht zugrunde zu gehen – das was mich nicht umbringt…
Dieses DAS (was mich nicht umbringt) ist allerdings ein unbekannter Faktor und wir wissen nicht, was DAS von DEM unterscheidet (was mich nur umbringt). Die Antwort scheint im Kontext und in der Kombination zu liegen: extremer Stress, an dem ich einzeln scheitern kann, macht mich in der Kombination stärker?!
Wim Hof wird auch nicht müde, immer wieder zu betonen, dass es um die Kombination von Atem, Kälte und Wille geht und nicht um die Einzelkomponenten. Das unterscheidet seine Methode wohltuend von all jenen Experten, die sich auf den Überatmungsrausch als Einzeldisziplin beschränken bzw. „spezialisieren“ und munter zum heillosen Überatmen im Namen der Zirbeldrüse (DMT-Atmung), des Pranayamas und der Kundalini, der Alkalisierung oder schlichtweg der Gesundheit oder gar Atemförderung an sich aufrufen. Und auch erhört werden, denn diese raffinierte Atemvöllerei geht gut die Kehle runter und fühlt sich wunderbar an – sie schmeckt wie Zucker!
Der Zuckerzauberwahn
Machen wir nun mit der Atmung, was wir mit der Nahrung bereits vor Jahrzehnten gemacht haben und verfallen erneut dem raffinierten Zuckerzauber? Überkonsum mittels Unterversorgung?? Zirbeldrüsige DMT-Atmung, Kundalinierweckung und atmungsaktive Alkalisierung (respiratorische Alkalose!) auf Mundatmung komm raus? Je mehr, je besser, anything goes, fast food and breathing – KickAsAna!
Der raffinierte Kohlenhydratswahn (und dessen Fettverteufelung) begann uns immer besser zu schmecken und wurde uns auch immer schmackhafter gemacht und das über Jahrzehnte. Bis wir heute vor lauter Überkonsum tatsächlich in einer Ernährungskrise gelandet sind und in einer chronisch übergewichtigen und gleichzeitig mangelernährten Gegenwart aufgewacht sind.
Wird uns nun etwa der raffinierte Überatmungswahn schmackhaft gemacht? Viel Luft um nix und noch mehr Luft um gar nix?! Pumpen wir uns nun mit Sauerstoff voll, den wir allerdings gar nicht absorbieren können, weil wir gleichzeitig das dazu nötige Kohlendioxid abgepumpt haben: kohlenhydratischer Sauerstoffwahn und fette Kohlendioxidverteufelung? Willkommen im Schwarz-Weiss populistischer Atemschwurbelei!
Stress – der grosse Unbekannte
In der Wim Hof Methode geht es nicht so sehr um den Atem, sondern um gezielte Extremaussetzungen und deren Kombination. Der Atem an sich leidet (überatmen ist schliesslich so belastend wie überessen oder überdenken), aber dieses Leiden zwingt den Körper zu Anpassungen, die ihn, in Kombination mit Kälte und Willen, insgesamt stärker machen können. Und hier kommen wir zu dem Zustand, über den wir so viel reden und so wenig wissen: die Welt des Stresses, die uns schnell an die Grenzen der Wissenschaft und ins Land der Vermutungen bringt. Wie Stress oder Extremsituationen in Verbindung sich auf den Einzelnen auswirken, ist schwer voraussagbar. Wir verstehen Stress spezifisch, aber nicht im Kontext. Es gibt
- den akuten Stress der momentanen Überlastung,
- den chronischen Stress angesammelter Kompensationen,
- den positiven oder adaptiven Stress (Hormesis), der mich stärkt
- und den negativen Stress, der mich schwächt.
Funktion und Wirkungsweisen sind zwar im Einzelnen bekannt, aber eben nicht im Kontext. Unser Körper ist schlicht zu komplex, als dass wir ihn (bisher) als Ganzes verstehen können. Welche Menge in welcher Mischung Medizin oder Gift ausmacht, bleibt ein Rätselraten und ist bisher eher dem Marketing als der Wissenschaft unterworfen. Verschiedene Kontexte führen zu verschiedenen Studien mit verschiedenen Resultaten.
Über saure Basen
Im Kleinkontext ist Überatmung scheinbar nachweislich gut, weil sie mich alkalisiert und wir damit eine basische Entsäuerung assoziieren. Allerdings nennt sich diese Entsäuerung respiratorische Alkalose und – den Kontext etwas erweitert – sehen wir, dass der Körper diese mit einer metabolischen Azidose ausgleicht, um das Blut in seinem streng fixierten pH-Wert (7.31 – 7.41) halten bzw. puffern zu können. Mein Blut ist tatsächlich leicht alklalisch, aber streng auf seinem Wert geeicht; Alkalisierung darüber verträgt es genauso wenig wie Versäuerung darunter. Wenn ich mich nun mit Überatmung darüber hinaus veralkalisiere, zwinge ich quasi meinen Körper, darauf mit Säurebildung zu reagieren (meist mittels schlechter Verdauung oder Gedanken), um die Balance halten zu können – ein unnötiger Teufel der mit einem unerwünschten Beelzebub ausgetrieben wird - absurd!
Und süsse Reibereien
Im günstigen Fall nötigt Stress den Körper, mittels Anpassung, gestärkt daraus hervorzugehen. Das wäre dann eine Hormesis oder adaptiver Stress, wo aufgrund von entstandener Reibung und dessen erfolgreichen Umgangs der Körper stärker und leistungsfähiger wird. Es ist das evolutionäre Muster der selektiven Reiberei, Adaption oder Anpassung im Sinne der Arterhaltung und findet in unserem Leben immer und überall statt. Die Verdauung funktioniert aufgrund der Reiberei eines fremden Mageninhalts mit körpereigenen Substanzen und Prozessen. Die Atmung funktioniert aufgrund der Reiberei atmosphärischer und ambienter Luftgase und Erfahrung allgemein funktioniert aufgrund der Reiberei spontaner Eindrücke mit Gewohnheiten. Reiberei ist lebendiger Umgang und Beziehung, wie wir alle im Laufe unserer Partnerschaft(en) erfahren – Yoga: in Beziehung sein!
Aber zurück zur Wim Hof Methodik. Dass nach 30 bis 40 tiefverblasenen Atemzügen die Luft für 2 bis 3 Minuten wegbleibt, ist ein berauschendes Gefühl, keine Frage. Aber daraus gleich einen Atemrückhalt mit positiven systemischen Folgen machen zu wollen ist zwar möglich, aber auch gewagt; denn für so viel Luftverpumpung sind die Atempausen am Ende erstaunlich kurz. Der Buteyko-Praktikant hält den Atem 2 Minuten nach der Ausatmung, der Freitaucher 3 Minuten nach der Einatmung, ganz ohne vorherige Luftverblasung. Die spürbare Energetisierung nach effektiver Überatmung ist eine körperliche Schockreaktion auf einen massiven Kohlendioxidnotstand. Dieser Notstand mobilisiert nun alle vorhandenen Reserven und Mechanismen, um die Situation kompensieren und sich anpassen zu können – der Körper steht am Abgrund, pfeift physiologisch gesehen aus dem letzten Loch und ist somit in der Tat immens energetisch.
Natürlich bin ich temporär im Rauschmodus leistungsbereiter und der Körper im Stressmodus leistungsfähiger, aber das rechte Mass im richtigen Verhältnis ist dabei allentscheidend, individuell unterschiedlich und einzigartig. Überatmung tut mir gut, wenn es mich im Kontext positiv stresst (adaptiert) und dann ist es auch nicht wichtig, dass im Einzelnen der Atem(wert) darunter leidet, weil es um die Gesamtheit geht. Wenn der Kontext allerdings nicht stimmt und meine Überatmung lediglich chronisch wird, wird sie auch solche Symptome hervorrufen. Ebenso gilt es aufzupassen, den gegebenenfalls positiven Stress der Überatmung nicht mit einem normalen oder gesundem Atemverhalten an sich zu verwechseln und die Lunge auf eine Luftpumpe zu degradieren.
Den Atem an sich verstehen zu lernen und ihn im Kontext entsprechend einsetzen zu können, ist eine persönliche Praxis und ein lebendiger Werdegang, der sich nur schwer verallgemeinern und generalisieren lässt. Wim Hof ist diesen Werdegang gegangen – auf erstaunliche Art und Weise!